Stolperstein, Klopstockstraße 19, Berlin Hansaviertel
Geschichte
Hier können Sie mehr über unsere Namensgeberin Clara Grunwald, eine jüdische Montessori-Pädagogin des vorigen Jahrhunderts, erfahren und darüber, wie wir uns mit dem Thema beschäftigen.
Clara Grunwald, 1877-1943 - eine kurze Biografie Clara Grunwald wurde am 11. Juni 1877 als Tochter eines erfolglosen Textilfabrikanten in Rheydt bei Mönchengladbach geboren. Die später kinderreiche Familie zog 1883 nach Berlin.
Entgegen dem damaligen Rollenverständnis in Bezug auf Frauen wollte Clara studieren. Ein akademisches Studium konnte sich die Familie aber nicht leisten. So besuchte Clara das "Pädagogische Seminar" und wurde
Volksschullehrerin. In diesem Beruf arbeitete sie mit großer Hingabe. Ihre besondere Fürsorge galt Kindern aus schwierigen Verhältnissen. Später hat sie sogar eines dieser Kinder adoptiert.
Als Clara Grunwald die Schriften der italienischen Pädagogin Maria Montessori kennenlernte, fühlte sie sich in ihrer Kritik an der autoritären deutschen Schule bestätigt. Sie gründete mit anderen Reformpädagogen die "Deutsche Montessori-Gesellschaft" und wurde deren erste Vorsitzende. Sie reiste neben ihrem Beruf durch ganz Deutschland, hielt Vorträge, schrieb Artikel und initiierte die Einrichtung verschiedener Kinderhäuser.
1933 wurde ihr von den Nazis die Lehrerlaubnis für öffentliche Schulen entzogen. Bald darauf wurde auch die Montessori-Bewegung verboten, ihre Einrichtungen wurden geschlossen.
Viele Juden flüchteten aus Deutschland. Clara Grundwald blieb, entgegen den wohlmeinenden Ratschläge guter Freunde. 1941 erhielt sie die Genehmigung, auf Gut Neuendorf bei Fürstenwalde zu leben und zu arbeiten, Dort war ein sogenanntes "Umschulungslager" für Juden eingerichtet worden, um diese angeblich für eine Auswanderung nach
Palästina vorzubereiten.
Hier lebte auch ihre Adoptivtochter mit Mann und Kindern. Clara Grunwald unterrichtete die Kinder des Lagers ohne Bücher, Papier und Stifte. Diese Arbeitsmittel waren für jüdische Kinder verboten. Bald begannen die Nazis mit dem Abtransport der Menschen in die Vernichtungslager.
Clara Grunwald war über 60 Jahre alt und sollte deshalb nicht nach Auschwitz, sondern nach Theresienstadt deportiert werden. Vielleicht hätte sie dort überlebt. Sie bestand aber darauf, ihre Freundin und die anderen Kinder des Lagers nach Auschwitz zu begleiten, wo sie alle im April 1943 ermordet wurden.
Literatur:
"Und doch gefällt mir das Leben". Die Briefe der Clara Grunwald 1941
1943 Hrsg: E. Larsen, persona-verlag
"Das Kind im Mittelpunkt", Clara Grunwald, Kinders Verlag
"Spuren im Sand", über die Pädagogin Clara Grunwald, die "ihre" Kinder nach Auschwitz begleitete, eine Sendung des WDR
Geschichte einer Namensgebung
von Brigitte Hegenbart
Vollständiger Text in:
Ulmer Beiträge zur Montessori-Pädagogik - Band 3
Clara Grunwald
Das Kind ist der Mittelpunkt
Hrsg. Axel Holz
Kinders-Verlag 1995
Eine Lehrerin der ersten Generation schildert, wie es zu der Namensgebung der Schule kam.
Unsere Schule besteht seit dem Sommer 1991. Sie wurde die 21. Grundschule in Kreuzberg. Dieser Beginn beruhte auf der Initiative einer kleinen Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern, die im Rahmen des Arbeitskreises Montessori-Pädagogik e. V. in Berlin das Ziel hatten, ihre Montessori-Ausbildung in die Praxis umzusetzen.
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So schnell wie möglich wollten wir, außer einer Schulnummer, einen Namen. Der Name "Maria-Montessori-Schule" war in Berlin bereits vergeben und war uns außerdem nicht nahe genug. Der Name Clara Grunwald fiel schon öfter, nachdem ein Mitglied des Arbeitskreises eine Schrift mit dem Titel: "Montessori-Erziehung in Familie, Kinderhaus und Schule" von ihr entdeckt hatte. Wir erfuhren, dass Clara Grunwald in den Zwanzigerjahren die Montessori-Pädagogik in Berlin und dann in ganz Deutschland überhaupt erst bekannt gemacht und verbreitet hat. Sie war eine Lehrerin, die unermüdlich daran arbeitete, die herkömmliche Schule zu verändern, Lehrer und Eltern zu beraten und sich für Kinder aus armen Verhältnissen zu engagieren. Uns gefielen auch die Berichte über die Auseinandersetzungen mit Maria Montessori, der sie wohl konsequent einige Standpunkte entgegensetzte, als diese, auf Initiative Clara Grunwalds, in Berlin Kurse durchführte und Vorträge hielt. Nach einigem Stöbern entdeckten wir die Briefe Clara Grunwalds (1941-1943). Das ganze Kollegium war nach der Lektüre des Buches "Und doch gefällt mir das Leben" zutiefst erschüttert, und plötzlich wurde uns richtig bewusst, warum keiner mehr Clara Grunwald kannte. Mit Gewalt war eine Geschichte, ein Leben, gebrochen worden, ein Faden gerissen. Wir nahmen den Faden wieder auf, und er führte uns zu anderen Menschen und neuen Erfahrungen mit unserer deutschen Geschichte des Nationalsozialismus. Spontan hatten wir das Gefühl, mit dem Namen dieser Frau könnten wir unseren aktuellen pädagogischen und politischen Standort deutlich machen, wenn es uns gelänge, ihn in unserer Arbeit mit den Kindern, den Eltern und der Öffentlichkeit lebendig zu machen.
Ich schrieb an die Verlegerin des kleinen Buches, Lisette Buchholz, nach Mannheim. Sofort kam Antwort, sehr erfreut, herzlich und engagiert, mit der Empfehlung, uns an zwei für uns wichtige Kontakte zu wenden. Der eine Kontakt war das Antikriegsmuseum in Berlin-Friedrichshain. Hier war der Name Clara Grunwald schon vor längerer Zeit, im Rahmen einer Ausstellung "Der gelbe Stern", bei Recherchen bekannt geworden. Die kleine, sehr aktive Gruppe der MitarbeiterInnen des Antikriegsmuseums ermöglichte uns die erste Begegnung mit Zeugnissen, Fotos und Dokumenten der Familie Grunwald. Während der Dauer ihrer Ausstellung hatten sie Zeitzeugen, die Clara Grunwald persönlich kannten, aufgespürt und die Verbindung zu Chaim Geron (früher Heinz Grunwald), einem Neffen von Clara Grunwald in Israel, hergestellt. Zu ihnen kam Chaim nach über 50 Jahren zum ersten Mal wieder nach Berlin, von wo er 1939 vor den Nazis geflohen war. Die Mitarbeiter des Antikriegsmuseums waren sehr erfreut über unsere Absicht, eine Montessori-Schule nach Clara Grunwald zu benennen, aber auch sehr skeptisch, ob dem Interesse und den Bekenntnissen wirklich Taten folgen würden. Ich schrieb Chaim Geron und war auf die Reaktion sehr gespannt. Beim Schreiben spürte ich den Druck der Geschichte. Wie reagiert ein Mensch, der unser Land verlassen musste, um zu überleben, der seine Tante zurückließ, die ihm teuer, wie eine Mutter, war und der vielleicht ahnte, dass er sie nie wiedersehen würd? Würde Chaim Geron antworten? Wie würde er antworten?
Die Antwort kam sehr schnell und voller Freude. Ausführlich berichtete er uns über die verschiedenen Lebenswege seiner Familie und die große Bedeutung, die seine Tante für seine gesamte Lebensplanung gehabt hatte. Dass ihr Name und die Erinnerung an diese mutige und nicht zu entmutigende Frau wieder einen Platz in Berlin haben sollten, machte ihn sehr froh und unserem Kollegium gegenüber sehr offen. Es war ein Höhepunkt seiner Bemühungen und der seiner inzwischen verstorbenen Frau, den Menschen Clara Grunwald wieder in Erinnerung zu bringen. Das war ihnen in Israel gelungen, wo nach vielen Bemühungen die Briefe in hebräischer Sprache erschienen waren und später endlich auch in Deutschland, wo Clara Grunwald gelebt und gewirkt hatte. Nach dieser Reaktion spürte das ganze Kollegium die Bedeutung, die die Namensgebung als Zeichen und Mahnung für uns und unsere Kinder haben konnte. Chaim wollte bei der Namensgebung dabei sein, und er kündigte sehr kurzfristig seinen Besuch an.
Zu dieser Zeit hatten wir 100 Kinder im ersten und zweiten Schuljahr und eine Vorklassengruppe in der Schule. Nicht einfach, Kindern diesen Alters den Namen Clara Grunwald so zu vermitteln, dass er sich ihnen nicht nur oberflächlich einprägte. Wir wollten mehr!
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Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren.
Am 4. September 1992 war es soweit. Chaim kam schon am Tag davor, und wir machten diesen Tag zum Festtag für die Kinder. Natürlich waren alle etwas nervös, denn wir hatten zwar eine Vorstellung davon, wie alles ablaufen sollte, aber wir hatten keine Ahnung, ob ein 74-jähriger Mann auf dem Hintergrund seiner Geschichte und ohne dass wir uns vorher jemals gesehen hatten, bereit war, das alles mitzumachen. Jedes Kind brachte an diesem Tag eine Blume mit und wir warteten gemeinsam in der Aula auf ihn. Ich empfing ihn schon vor dem Schulgebäude, wohin er von einem Mitarbeiter des Antikriegsmuseums begleitet wurde. Ganz kurz begrüßte ich ihn und stellt ihm unser Programm vor. Er war mit allem einverstanden. Man spürte seine Aufregung, die er möglichst nicht zu zeigen versuchte, Als wir in die Aula kamen, klatschten die Kinder und Chaim sprach kurz zu ihnen. Wir hatten uns vorher nicht überlegt, auf welche Weise die Kinder ihre Blumen überreichen könnten, und ich sagte spontan: "Jetzt könnt ihr ihm eure Blumen schenken!" Natürlich stürzten sofort alle nach vorne und Chaim ertrank kurzfristig in einem Blumenregen. Was im Moment als "Panne" erschien, beschrieb Chaim später als den schönsten Augenblick in seinem Leben. Die große Spannung fiel von ihm, als die vielen Kinder ihm ihre Zuneigung so hautnah demonstrierten. Anschließend spielten und sangen unsere Schulkinder und wir gingen dann alle gemeinsam auf den Hof, wo Chaim zum Gedenken an Clara Grunwald einen Apfelbaum pflanzte, dessen Symbolik Chaim durch eine kleine Ansprache an die Kinder und anwesenden Eltern unterstrich. Die Kinder der zweiten Klassen setzten sich danach mit Chaim in ein Klassenzimmer, und er erzählte ihnen aus seinem Leben, von seiner Tante Clara, seiner Flucht aus Deutschland und seiner Familie, mit der er nun in Israel lebt.
Am nächsten Tag fand die offizielle Feier zur Namensgebung statt. Es kamen viele, die mit unserer Schule gar nicht im unmittelbaren Kontakt standen, sondern sich einfach freuten, dass eine öffentliche Einrichtung an unserer Vergangenheit in Nazideutschland erinnerte und es als Aufgabe betrachtete, die Kinder darüber zu informieren und zur Wachsamkeit zu erziehen.
Für Chaim war es ein großer Augenblick, zu den Gästen zu sprechen und ihnen zu sagen, dass seine Vorstellungskraft nie ausgereicht hätte, an ein solches Ereignis zu glauben. Später sagte er, das er ganz sicher das Gefühl gehabt hatte: "Tante Clara war unter uns."